Vorwort

Alfred Krabbe

Die profanen Orte von Menschen ziehen einer dynamischen Punktwolke gleich nicht nur über die ganze Erde, sondern auch durch die Geschichte der gesamten Menschheit. Die Suche nach einem oder gar dem Ort war zu allen Zeiten für Menschen Thema im Blick auf die Optimierung der eigenen Lebensumstände, der eigenen Sicherheit, des eigenen Glücks. Wirtschaftliche Erwägungen, kriegerische Auseinandersetzungen, klimatische Bedingungen und selbst Urlaubs- und Auszeiten: Menschen reagieren zu allen Zeiten mit der Suche nach einem guten, nach einem schönen und nach einem besseren Ort, und sei dieser auch nur vorübergehender Natur. In der Gegenwart erleben wir vor allem die Flüchtlingsströme infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten und jüngst in der Ukraine, denen Menschen durch Ortsveränderungen auszuweichen versuchen. Wir erleben Menschen, die sich eine wirtschaftlich bessere Perspektive in einem anderen Staat versprechen und dafür bereit sind, ihre angestammte Heimat aufzugeben. Häufig genug ist es die reine äußere Not, zuweilen auch religiöse Verfolgung, die sie zu waghalsigen Reisen antreibt, meist nicht wissend oder ahnend, was sie erwarten wird. Die großen Auswanderungswellen nach Nord- und Südamerika und nach Australien in den vergangenen zwei Jahrhunderten aus Europa legen von den verschiedenen Motiven beredte Zeugnisse ab. Gegenwärtig erfahren wir Deutschland eher als Einwanderungsland, das (nach Angaben des Statistischen Bundesamtes) im zurückliegenden Jahr 2022 einen Zuzug von 2,7 Millionen Personen erlebte (netto 1,5 Millionen).

Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um einen ersten Blick auf den Ort oder die Orte des Menschen zu motivieren. Sehr bald und bei genauerer Betrachtung stellt sich dann heraus, dass die Frage nach dem Ort des Menschen auch andere Dimensionen des Menschseins betrifft, die äußerlich zunächst weniger unmittelbar ins Auge springen mögen.

Bedürfen Menschen überhaupt eines Ortes, sind sie nicht ihr Leben lang Umherziehende, Nomaden gleichend, „heute hier, morgen dort“, um eine bekannte Zeile zu zitieren? Und welches wäre denn gegebenenfalls ein solcher Ort für sie? Wäre es ein Ort vermeintlich permanenten Glücks an einem einsamen Traumstrand? Oder ein Ort in der Geborgenheit innerhalb einer vertrauten Gruppe, einer Familie, eines Clans? Eröffnet vielleicht erst eine geglückte innere Verortung eine konstruktive äußere Mobilität, und was wären denn gegebenenfalls solche inneren Orte und was tragen diese für unser Menschsein und unsere Zufriedenheit aus?

Bereits in der weitesten Perspektive des Planeten Erde als Ort des Menschen ergeben sich Aspekte, die die Erde als einen Ort der Dauer für den Menschen infrage stellen, zwar nicht jetzt unmittelbar, sondern vielleicht erst in vielen Millionen Jahren. Aber doch scheint bereits hier eine Grenze auf, die die Begrenztheit des Menschen in gewisser Weise spiegelt: Ein Ort für deutlich weniger als eine Ewigkeit! Dennoch, die Raumfahrt des Menschen in den Weltraum geschieht nicht und bleibt auch nicht ohne Reflexion und Bewusstwerdung der hohen Qualität der habitablen Ökosphäre für die Menschheit und verbindet sich auf diese Weise mit Gedanken zu deren Bewahrung, wohl wissend, dass sich der Weltraum als lebensfeindlicher präsentieren könnte, als zunächst vermutet.

Das Bewusstsein von Menschen von ihrer eigenen Endlichkeit angesichts eines unglaublich großen Kosmos führt in vielen Religionen und transzendenten Lebensanschauungen zu einer Verortung des ansonsten schwer Fassbaren in der materiellen Welt: „Heilige“ Orte, selbst in unserer Zeit, an denen sich die unsichtbare Welt in der irdischen Welt lokal verankert und an denen eine Kommunikation zwischen beiden Welten als möglich geglaubt wird. Der Lebensvollzug im Angesicht Gottes mit all seinen Höhen und Tiefen, mit Vergebung und mit Erlösung sind biblische Themen, die durch Jahrtausende nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Waren im Alten Testament das heilige Zelt und später der Tempel besondere Orte und Zentren göttlicher Gegenwart im Volk Israel, so wurden die spätere mehrmalige Vertreibung der Israeliten aus ihrem Land und die Wiederkehr in neuester Zeit vielfach als Strafe und Gnade Gottes gedeutet. Der Zionismus ist daher für die Beteiligten eine Geschichte des wiedergefundenen oder des wiederzugewiesenen Ortes.

Für die neutestamentliche Gemeinde dagegen sind der Weg in die Welt und das Verlassen des angestammten Ortes geradezu Programm: „Gehet hin …“! Mit der Verleihung des Heiligen Geistes entfiel nicht nur die Lokalisierung des einen heiligen Ortes in Jerusalem, sondern durch das göttliche Versprechen: „Ich bin bei euch alle Tage …“ wird jeder Ort zu einem möglichen Ort der Verbindung zwischen Gott und Mensch. Auf diese Weise und mit der Bildung von Gemeinden und Kirchen realisierte sich die neue Perspektive eines wandernden Gottesvolkes, für dessen Mitglieder jeder Ort auf der Erde ein Ort im Angesicht Gottes wird.

Neben den transzendenten Bezügen von Orten ist auch die innerweltliche Sozialstruktur von immenser Bedeutung, denn auch durch intensives gedeihliches Zusammenleben, etwa in der Familie oder im Clan, erlebt ein Mensch eine innere Verortung. Durch solche Erfahrungen und durch solchen Glauben werden die Idee und das Empfinden gestärkt, die Erde und – genauer – die lokale Landschaft auf ihr und die vertraute Gruppe in ihr kann zusammen mit den lokalisierten transzendenten Bezügen einen Menschen so verorten, dass ihm der Ort zur Heimat wird: ein Ort, an dem er Glück empfindet, an dem er sein darf und möglicherweise auch sein soll.

In profaner Hinsicht werden Orte relativer Zufriedenheit Menschen in unserer Gesellschaft in vielfältiger Weise und bereits aus wirtschaftlichen Erwägungen angeboten. Der wirtschaftliche Blickwinkel muss kein Nachteil sein, da doch der Arbeiter seines Lohnes wert sein soll, und es hilft naturgemäß der Wirtschaft und dem Gemeinwesen, wenn für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche eben auch bezahlt wird. Insofern erforschen Analysten ständig die aktuellen Orte der Kunden ihrer Dienstleistungssparten und versuchen, sie dort abzuholen, wo sie sich momentan befinden. Dies ist eine Dienstleistung ganz eigener Art, die dem Kunden zumeist verborgen bleibt, zuweilen auch verborgen bleiben soll, insbesondere dann, wenn man den Kunden durch ein vertieftes Verständnis seiner Bedürfnisse an einen solchen Ort zu bewegen hofft, an dem man sich von ihm einen wirtschaftlichen Vorteil verspricht.

Ein inzwischen intensiv genutztes Mittel zu solchem Vorgehen stellen die vielfältigen Daten bereit, die sekündlich und im Hintergrund von unseren Smartphones abgegriffen werden und die es erlauben, sowohl unsere äußere wie auch (zumindest zum Teil), unsere innere Verortung zu analysieren. Die IT-Technologie hat ganz nebenbei ebenso eine völlig neue und bislang unbekannte virtuelle Realität erzeugt – und damit Orte, die Menschen für sich entdecken und innerhalb derer sie im Rahmen fast aller ihrer Aktivitäten agieren können und dies in immer größerem Umfang und auch weltweit tun. Die tablet- und smartphone„bewaffnete“ IT-Gesellschaft ist damit zu einem global verfügbaren virtuellen Ort geworden, der eine Lokalisierung des Menschen, sein Erscheinen an einem konkreten Ort, nicht mehr zwingend erfordert. Die Videokonferenzen während der Zeit der vergangenen Pandemie stehen uns allen als Beispiel vor Augen. Mithilfe dieser Technologie haben wir das Spektrum möglicher für Menschen verfügbarer Orte auf dieser Welt potenziert. Ob diese Verfügbarkeit auf Dauer uns zum Vorteil gereicht, wird sich auch angesichts der aktuellen Debatte um ChatGPT allerdings noch zeigen müssen.

Die Rede vom Ort des Menschen stellt sich im Hinblick auf die Fülle möglicher Aspekte als ein schier unerschöpfliches Thema vor, von dem während der 149. Tagung der Evangelischen Forschungsakademie vom 6. bis 8. Januar 2023 in Berlin in Reflexionen und intensiven Diskussionen aus Kapazitätsgründen nur einige Facetten entfaltet werden konnten. Doch hoffen die Herausgeber, dass in der Zusammenschau in diesem Tagungsband die hohe Bedeutung sichtbar wird, die die als recht empfundenen äußeren und inneren Orte des Menschen für sein gelingendes Leben und für seine Zufriedenheit haben.

An dieser Stelle sei nochmals allen an der Organisation der Tagung beteiligten Personen gedankt, insbesondere den Autoren für die Bereitstellung ihrer Beiträge, sowie Frau Olivia Syrowatka (Detmold) für das Erstellen des Layouts.

Alfred Krabbe für die Herausgeber

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