Vorwort

Andreas Lindemann | Christian Ammer

Das Kuratorium der Evangelischen Forschungsakademie (EFA) traf im Jahre 2014 die Entscheidung, die Januartagung 2016 unter die mit den beiden Begriffen Kultur und Identität bezeichnete Thematik zu stellen. Dass dann die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Identität im Laufe des Jahres 2015 eine so große Aktualität bekommen würde, war damals noch nicht abzusehen. Es sollte bei der Tagung, die vom 8. bis 10. Januar 2016 in Berlin stattfand, aber nicht darum gehen, die sich rasch verändernden aktuellen Gegebenheiten zu analysieren und zu interpretieren. Vielmehr befassten sich die Vorträge und die daran jeweils anknüpfenden umfangreichen Diskussionen mit langfristig wirksamen Entwicklungen, die sich den drei Komplexen »Kultur und Identität im europäischen Kontext«, »Identitätskonstruktionen« und »Transzendente Bezüge von Identität und Kultur« zuordnen ließen. Trotz der notwendigen inhaltlichen Begrenzung dieser vielschichtigen Thematik wurde – der interdisziplinären Arbeitsweise der Evangelischen Forschungsakademie gehorchend – die anstehende Problematik aus der Sicht von Religionsphilosophie und Kulturwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Rechtsgeschichte, Biblischer und Systematischer Theologie sowie Ideengeschichte des Islam und Genderforschung behandelt. Der vorliegende Band dokumentiert die Mehrzahl der während der Tagung gehaltenen Vorträge. Darüber hinaus hat die Lesung des aus Bosnien stammenden Schriftstellers Saša Stanišić der Tagung eine besondere kulturelle Prägung gegeben.

In die Zeit zwischen der EFA-Tagung und der Drucklegung der dort gehaltenen Vorträge fiel die Entscheidung Großbritanniens für den Austritt aus der Europäischen Union. Das ist nicht eine eher zufällige und beim nächsten Wahltermin möglicherweise zu korrigierende Entscheidung einer (knappen) Mehrheit der Wähler, sondern eine Grundsatzentscheidung, mit nicht nur wirtschaftlichen und politischen, sondern auch weitreichenden kulturellen Folgen. In den das Thema »Europa« behandelnden philosophisch-kulturwissenschaftlichen und soziologischen Beiträgen von Enno Rudolph und Kees Schuyt findet dieser Aspekt seinen Niederschlag. Die beiden theologischen bzw. theologiegeschichtlichen Beiträge von Michael Wolter und Christiane Tietz sowie der rechtsgeschichtliche Beitrag von Rainer Rausch machen deutlich, dass das spannungsvolle Verhältnis von Kultur und Identität keineswegs ein neuzeitliches Phänomen ist. Heiner Keupp widmet sich der Konstruktion »fluider« bzw. multipler Identitäten, wenn normativ vorgegebene Identitätsräume zunehmend wegbrechen. Die Existenz inhärenter psychosozialer Problemlagen impliziert dann immer die Möglichkeit des Scheiterns. Der Essay von Saša Stanišić über seine Ankunft als bosnischer Flüchtling 1992 in Heidelberg kann als Beispiel einer beeindruckenden kulturellen Integration angesehen werden.

Die Tagung Kultur und Identität stand in einer gewissen Kontinuität zu der vorangegangenen Tagung im Januar 2015, in der es um Rechtliche Verantwortlichkeit im Konflikt und insbesondere um interkulturelle Rechtskonflikte ging.

Die Herausgeber danken allen Beteiligten für ihre Mitarbeit und der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig für die wie immer gute Zusammenarbeit.

Bielefeld und Halle (Saale) im September 2016
Andreas Lindemann
Christian Ammer

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