Vorwort und Einleitung

Udo Ebert | Arno Schildberg | Christian Ammer

Die Lösung von Konflikten und die Regelung von Verantwortlichkeit gehören zu den zentralen Aufgaben des Rechts.

Konflikte können zwischen Personen bestehen. Aber auch eine einzelne Person kann sich in einem Konflikt befinden; namentlich dergestalt, dass sie einander widerstreitenden Verhaltensanforderungen ausgesetzt ist. Entscheidet sie sich in einem solchen Konflikt für ein bestimmtes Verhalten, so hat sie dieses zu verantworten: vor ihrem Gewissen, vor einer anderen Person, einer gesellschaftlichen Gruppe, einer staatlichen Instanz.

Verantwortlichkeit meint das Einstehenmüssen für die getroffene Entscheidung. Als Maßgabe, als Beurteilungsmaßstab, liegen ihr normative Ansprüche oder Werte zugrunde, die religiöser, ethischer, rechtlicher oder sonstiger Art sein können. Dementsprechend lassen sich religiöse, moralische, rechtliche und andere Verantwortlichkeit unterscheiden. Dieses Buch handelt von rechtlicher Verantwortlichkeit.

Konfliktsituationen vielfacher Art kommen für das Gesagte in Betracht. Wie ist das Verhalten eines Menschen rechtlich zu beurteilen, der im Konflikt zwischen Recht und Gewissen dem Letzteren folgt und gegen das Recht handelt? Ebenso wie das Gewissen kann der Glaube, eine ideologische oder eine politische Überzeugung einen Menschen in Konflikt bringen und ihn zu einem Verhalten veranlassen, das die Frage der rechtlichen Verantwortlichkeit aufwirft. Um einen Fall rechtlicher Verantwortlichkeit im Konflikt handelt es sich auch, wenn jemand in einem Unrechtssystem systemkonforme Taten begeht und nach dem Untergang des Systems von dem neuen System für diese Taten zur Verantwortung gezogen wird. Kann er sich im Widerstreit der beiden Rechtsordnungen auf die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens zur Zeit der Tat berufen? Von zunehmender Aktualität sind interkulturelle Konflikte. Wie verhält es sich mit der rechtlichen Verantwortlichkeit einer Person, die aus einer fremden Kultur nach Deutschland eingewandert ist und durch eine Handlung, die ihrer Herkunftskultur entspricht, deutsches Recht verletzt? Entlastet es sie, dass ihre Herkunftskultur die Handlung erlaubte, eventuell sogar gebot?

Rechtliche Verantwortlichkeit manifestiert sich zunächst in einem Urteil über das fragliche Verhalten (als verboten oder erlaubt) und über die handelnde Person (als schuldig oder unschuldig). Vielfach sind an die Verantwortlichkeit Sanktionen geknüpft. Deren Art richtet sich nach dem jeweils betroffenen Rechtsgebiet. Das Verwaltungsrecht kennt andere Sanktionen als das Privatrecht, wieder andere das Strafrecht. Dieses hält in Gestalt der Kriminalstrafe die einschneidendste Sanktion bereit, die der Staat gegenüber dem Einzelnen zur Verfügung hat. Insofern steht bei der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit besonders viel auf dem Spiel. Dem tragen die einschlägigen Gesetze Rechnung, indem sie die strafgerichtliche Verurteilung einer Person an strenge prozessuale Kautelen binden und für die strafrechtliche Verantwortlichkeit in der Sache ein differenziertes System von Voraussetzungen vorsehen, das für die Berücksichtigung ungewöhnlicher Umstände als verantwortungsausschließend oder verantwortungsmindernd Raum bietet. Dies gilt in besonderer Weise für Handlungen, die im Konflikt begangen werden.

Gerhard Otte behandelt in seinem Beitrag die Verantwortlichkeit des Richters für seine Entscheidungen. Die Bindung an das Gesetz nimmt dem Richter seine Verantwortung nicht ab. Vielmehr eröffnen etwa Rechtsnormen in Form komparativer Sätze oder Auslegungs- und Abwägungserfordernisse ihm Entscheidungsfreiräume, die er in eigener Verantwortung auszufüllen hat. Kommt er seiner Verantwortung nicht nach, so hat er allerdings Sanktionen zivilrechtlicher, strafrechtlicher oder dienstrechtlicher Art wegen des sog. Richterprivilegs nur in Ausnahmefällen zu befürchten.

Der Versuch, Systemunrecht durch Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu bewältigen, ist in Deutschland, wie Gerhard Seher darlegt, an Grenzen gestoßen, die in den Prinzipien des Rechtsstaats liegen. Das lenkt den Blick auf andere Wege des Umgangs mit staatlichem Unrecht: die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in Brasilien und in Südafrika. Von rechtsphilosophischer Warte betrachtet, lassen sich die drei Modelle – das deutsche, das südafrikanische und das brasilianische – unterschiedlichen Ausprägungen der ausgleichenden Gerechtigkeit zuordnen.

Mit interkulturellen Rechtskonflikten in Deutschland befasst sich der Beitrag von Udo Ebert. Er geht der Frage nach, inwiefern das Strafrecht in der Lage ist, der Konflikthaftigkeit einer fremdkulturell geprägten Tat bei der Bestimmung der rechtlichen Verantwortlichkeit des Täters Rechnung zu tragen. Die Frage wird unter den Aspekten der gegenwärtigen Gesetzeslage und Rechtsprechungspraxis („quod est“), möglicher Regelungsmodelle („quod esse potest“) und höherrangiger normativer Vorgaben („quod esse debet“) untersucht.

Ein interkultureller Rechtskonflikt, der in den letzten Jahren Öffentlichkeit, Politik, Wissenschaft, Justiz und Gesetzgeber in Deutschland besonders stark beschäftigt hat, betrifft die Knabenbeschneidung. Die auch historisch bedingte Sensibilität des Themas äußerte sich in der Emotionalität der darüber geführten Debatte. Günter Jerouschek geht in seinem Beitrag auf die diversen Aspekte der Thematik ein und zeigt, dass die Diskussion über die Knabenbeschneidung auch durch deren gesetzliche Regelung im Jahre 2012 nicht beendet worden ist.

Dem Verhältnis von Gewissensentscheidung und Rechtsordnung widmet sich die Untersuchung von Eilert Herms. Das menschliche Gemeinschaftsleben wird auf Seiten aller Beteiligten von Gewissensentscheidungen bestimmt und in seiner Ordnung durch sie geprägt. Um der Einheitlichkeit und Stabilität der Gemeinschaftsordnung willen existiert die Rechtsordnung. Zwischen dieser und dem Gewissen kann es zu Konflikten kommen. Ihnen sollte durch Verzicht auf Sanktionierung Rechnung getragen werden, soweit dies mit der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung als solcher vereinbar ist. Nicht nur bei den Rechtsunterworfenen, auch bei den Akteuren von Rechtssetzung und Rechtsprechung sind Konflikte zwischen Recht und Gewissen möglich.

Recht und Macht, Politik und Justiz geraten oft miteinander in Konflikt. Wie in den daraus resultierenden Auseinandersetzungen das Recht die Macht kontrolliert und die Justiz Politik nicht nur begrenzt, sondern vielfach auch unterstützt, und wie derart der Rechtsstaat seiner Verantwortung für die Befriedung des Gemeinwesens gerecht wird, zeigt am Ende des Bandes Jürgen Schmude. Der Rechtsstaat, wie ihn Schmude kennzeichnet, bietet Gewähr für eine friedensstiftende Entscheidung von Konflikten sowie für eine an Gerechtigkeit und Humanität orientierte Beurteilung rechtlicher Verantwortlichkeit des Einzelnen.

Das Thema „Rechtliche Verantwortlichkeit im Konflikt“ eröffnete Perspektiven auf Religion, Ethik, Kultur und Politik, deren Normen mit denen des Rechts in Konflikt geraten können, und bot damit im Rahmen der juristischen Fragestellung Raum für die Diskussion breit gefächerter gesellschaftlicher Probleme.

Über die Tagung ist in der Zeitschrift „Kirche und Recht“ ein ausführlicher Bericht von Rainer Rausch und Karl Georg Spitz erschienen (KuR 2015; S. 85 – 95).

Wir danken den Referenten dafür, dass sie ihre Referate als Beiträge für diesen Band zur Verfügung gestellt haben, und der Evangelischen Verlagsanstalt für die Publikation dieser Reihe und die sorgfältige Drucklegung.

Jena, Detmold und Halle (Saale) im August 2015
Udo Ebert, Arno Schilberg und Christian Ammer

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