Vorwort

Christian Ammer | Andreas Lindemann

In dem von führenden deutschen Neurowissenschaftlern im Jahr 2004 veröffentlichten Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung wird die Erwartung ausgesprochen, dass man in absehbarer Zeit „widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen“. Dualistische Erklärungsmodelle, so „die Trennung von Körper und Geist“, würden zunehmend verwischt werden. Und es heißt dann weiter:

„Was unser Bild von uns Selbst betrifft, stehen uns also in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus. Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften werden in einen intensiven Dialog treten müssen, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen.“*

Dieser Aufforderung zum Dialog zwischen Neurowissenschaft und Geisteswissenschaft ist die Evangelische Forschungsakademie (EFA) mit ihrer 128. Tagung gefolgt, die vom 6. bis 8. Januar 2012 in Berlin stattfand. Als Arbeitsgemeinschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen stellt sich die EFA den aktuellen Fragen, die sich aus dem Zusammenhang von christlichem Lebensverständnis und wissenschaftlicher Forschung ergeben.

In dem Manifest heißt es an einer Stelle, dass „sämtliche innerpsychische Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen“ und dass dementsprechend „all diese Prozesse grundsätzlich durch physiko-chemische Vorgänge beschreibbar sind“. Und dann wird gefolgert: „Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht“, denn sie „sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet.“ Eine der sich daraus ergebenden Fragen ist, was dies für das Selbstverständnis des christlichen Glaubens bedeuten könnte.

Das immer wieder zur Diskussion stehende Problem ist das des freien Willens: Kann unser Gehirn gar nicht frei entscheiden? Sind wir im Grunde so programmiert, dass über uns gleichsam bereits entschieden ist – nicht von einer höheren Macht, nicht von Gott, sondern durch die Möglichkeiten und Grenzen unseres Gehirns? Martin Luther verfasste im Jahre 1525 eine umfangreiche Schrift mit dem Titel De servo arbitrio, am besten zu übersetzen mit: Dass der freie Wille nichts sei. Luther ging es nicht um die Freiheit der menschlichen Entscheidung zu dieser oder jener Tat bzw. zu dieser oder jener Unterlassung. Es ging ihm vielmehr um die Frage, ob der Mensch dazu „frei“ ist, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Diese zuvor von Erasmus in dessen Schrift Vom freien Willen vertretene theologische Lehrposition wies Luther zurück: Der Mensch ist ganz und gar von Gott abhängig – und zwar bezogen auf sein Heil, bezogen auf sein eigentliches menschliches Sein, nicht bezogen auf Entscheidungen, die das alltägliche Handeln betreffen. Wird in der Hirnforschung diese von Luther als selbstverständlich gegebene Freiheit in Frage gestellt? Das ist eines der Probleme, das während der Tagung diskutiert wurde.

Die EFA hat sich in ihrer über 60-jährigen Geschichte kaum mit der Hirnforschung auseinandergesetzt, aber mehrere thematische Tagungen in den letzten Jahren bewegten sich doch eng im Umfeld der Hirnforschung: Mensch und Bild (2002), Sprechen heißt Übersetzen (2003), Heimat und Fremde (2004), Lebensräume und ihre Wahrnehmung (2005), Wahrnehmungen der Zeit (2006), Bioethik – Menschliche Identität in Grenzbereichen (2007), Die Würde des Menschen (2009), Widerfahrnis und Erkenntnis – Zur Wahrheit menschlicher Erfahrung (2010), Schmerz als Grenzerfahrung (2011). Die Mehrzahl der Beiträge auf diesen Tagungen ist in der von der EFA herausgegebenen Reihe ERKENNTNIS UND GLAUBE publiziert worden.

Die Tagung 2012 konnte die umfangreiche Problematik natürlich nur für ausgewählte Disziplinen behandeln: Die Beiträge von Henning Scheich (Neurobiologie), Bernd Weber (Neuroökonomie), Wolfgang Prinz (kognitive Psychologie), Dieter Sturma (Philosophie), Ulrich Körtner (Theologie), Udo Ebert (Strafrecht) und Richard Saage (Anthropologie) werden in dem vorliegenden Band dokumentiert, dazu der Vortrag des niederländischen Psychiaters und Philosophen Gerrit Glas, der zur Einführung in das Thema auf der vorangegangenen Tagung zu Pfingsten 2011 gehalten worden war. Das erwähnte Manifest der Hirnforscher war Gegenstand der abschließenden ausführlichen Generalaussprache, die von dem Neurobiologen Randolf Menzel, einem der Unterzeichner, und dem Theologen Ulrich Körtner eingeleitet wurde. Das Podiumsgespräch und die dann folgende Plenumsdebatte sind vollständig in dem vorliegenden Band wiedergegeben.

Die Herausgeber danken allen Beteiligten für ihre Mitarbeit. Mit dem Erscheinen dieses Bandes verbinden sie den Wunsch, dass das interdisziplinäre Gespräch zu diesen Grundfragen der menschlichen Existenz mit wachsendem gegenseitigen Verständnis und beiderseitigem Gewinn belebt werden kann.

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